Ein paar weiterführende Gedanken zum Serienfinale
Die Trauervearbeitung über das Serienende ist genauso im vollen Gange, wie die Diskussionen darüber. Am Ende lässt LOST überraschend viel Platz für Deutungen. Mehr, als den meisten sicher lieb ist. Ich schließe mich da gar nicht mal so sehr aus. Wie dem auch sei, ein bescheidener normaler Blogeintrag reicht da für das Finale aller Finals natürlich nicht aus. Deshalb soll es jetzt noch mal mit etwas Abstand, Grübelei und dem Einfluss diverser Erfahrungsberichte speziell um das Ende gehen, welches die Grundlage für all die Diskussionen ist. Also noch mal kurz zum Nachdenken…

Der beste Freund des Menschen...
Dabei ist die Inselhandlung eher von nebensächlicher Bedeutung. Hier gibt es zwar am Ende natürlich noch einige offene Fragen über die Geschichte der Insel (bspw. wer den magischen „Stöpsel“ da hin platziert hat), aber offene Handlungsfäden gibt es eigentlich kaum, was ja durchaus im Sinn der Sache liegt. Also, halten wir mal eben Folgendes fest. Jack stirbt nach seiner Quellen-Rettungs-Aktion den großen Heldentod dort, wo vor sechs Jahren alles begonnen hat. Er wirkt glücklich und ist sich dieses finalen Bildes, als auch Vincent mit dazukommt, und dessen Ironie vielleicht durchaus bewusst. Außerdem sieht er ein Flugzeug über die Insel fliegen. Dann schließen sich seine Augen und das letzte Kapitel mit ihnen. Natürlich kann man jetzt wild spekulieren, welches Flugzeug wir da sehen. Ich denke, die Annahme, dass es das Ajira Flugzeug ist, ist die plausibelste und schlüssigste. Und es würde Jacks Lächeln erklären, der sich freut, dass es seine Freunde von der Insel geschafft haben. So sind am Ende also Kate, Sawyer, Claire, Richard, Miles und Teufelsflieger Frank offensichtlich lebend von der Insel heruntergekommen. Eine interessante Kombination. Was aus ihnen geworden ist, werden wir nie erfahren. Claire wird sich um Aaron kümmern, Kate vielleicht um Yi Jeon, wenn sie darf. Sawyer hat ja auch noch ne Tochter, Richard ein Mittelos-Imperium und Miles jede Menge geklauter Diamanten von Nikki und Paolo. Und Frank? Der bleibt einfach Frank. Es ist auch alles nicht so wichtig. Vielleicht bekommen sie auch Besuch vom neuen Inselmanagement. Hurley bleibt zurück, übernimmt die Rolle des neuen Wächters mit Ben an seiner Seite. Die Rahmenbedingungen sind dabei völlig andere, als dies bei Jacob der Fall war. Ben spricht ja auch von einem neuen, besseren Weg. Zum einen ist Hurley einfach ein anderer, direkter Typ, der sich nicht viel aus Verschwiegenheit und Geheimniskrämerei macht und zum anderen ist da auch kein böser Gegenpol auf der Insel, wie im Falle von Smokey. Der war ein enormer Unsicherheitsfaktor, den Jacob verursacht hat und dessen Zerstörung er anscheinend genauso sorgfältig geplant hat, wie sein Bruder es mit seiner tat. Darum sind die Losties dort gelandet, wo sie gelandet sind. Hurley und Ben werden diese Probleme nicht mehr haben. Auch hat Ben seine Fehler eingesehen und wird nicht mehr nach dem Tron greifen. Es scheint so, als wäre die Regentschaft der beiden gut verlaufen. Und so gern wir es irgendwie sehen würden, wir müssen es bei der Phantasie belassen…

Erlösung für den Helden
Entscheidender ist da natürlich die Erzählebene der Flashsideways. Wie auch immer man sie nun am Ende nennen will, entscheidend ist nicht der Name, sondern ihr Wesen. Dafür gibt es unterschiedliche Begriffe aus unterschiedlichen Religionen und Denkweisen. Religionen sind aber eher nebensächlich und überflüssig, hier bewegen wir uns in spirituelle Bereiche. Wer will kann auch die Atombombe dafür verantwortlich machen, aber ich bleibe beim guten alten „Whatever Happened, Happened“… sie war letztendlich nur Mittel zum Zweck und der Zuschauer sollte das als Ausgangspunkt und Grundlage für die alternative Zeitlinie in der finalen Staffel nehmen. Aber na ja, ist ja nicht das erste Mal, dass uns die Serie aufs Glatteis führt. Es handelt sich um eine Art Zwischenstufe nach dem Tod… kein Fegefeuer im klassischen Sinne, denn für die Hölle sieht’s da ja eigentlich ganz beschaulich auf. Eine eigens geschaffene Welt, die losgelöst von jeder Zeit existiert und all die Personen beinhaltet, welche mit dem Zeitraum zusammen hängen, der den Losties am Wichtigsten war, nämlich den Geschehnissen rund um den Absturz von Flug 815. Diese Figuren und die Geschichte als solches sind das Essentiellste im Leben der Personen gewesen, welche wir in den letzten Jahren liebe gelernt haben. „Live Together“ heißt halt auch „die together“… Und früher oder später sterben halt alle Menschen und dann haben sie die Chance noch mal mit allen Personen zusammen zu sein, welche ihnen wichtig sind. Nicht jeder schafft es da hinein… Michael und andere tote Losties, welche wir nicht gesehen haben, stecken sicher noch auf der Insel fest, weil sie halt einiges falsch gemacht haben. Die Sideways besitzt eine Art Bindung, welche noch zum irdischen Leben besteht und welche man erst loslassen muss, um wirklich weiter zu ziehen… wo auch immer das sein wird. Diese Personen existieren unabhängig voneinander. Klar, man kann sich jetzt auch sagen, dass alle Sideways-Handlungen, welche wir gesehen haben auf Jack’s Phantasiewelt beruhen, die er kurz nach seinem Tod im Bambusfeld betreten hat, aber ich mag die andere Vorstellung lieber, zumal ja jeder auch Handlungsstränge unabhängig von Jacks Leben hat.

Erste Zweifel
Jack ist also tot, so viel steht fest. Vieles spricht dafür, dass er diese Welt pünktlich zum Staffelstart der finalen Staffel, also im Flug von Oceanic 815 betreten hat. Er wirkt anfangs noch etwas verwirrt und fehl am Platz, scheint sich ein wenig zu wundern und ausgesprochen nervös zu sein. Für die meisten Losties, besonders für Jack, ist die Insel sozusagen Segen, wie Fluch gleichzeitig. Trotzdem ist es verständlich, dass sie in dieser Welt auf dem Meeresboden liegt und all das nicht passiert ist bzw. dass der Neustart mithilfe von „Jughead“ gelungen ist. Ein einschneidendes Erlebnis halt. Und so wandeln alle Losties in dieser Zwischenwelt, erinnern sich aber nicht wirklich aneinander. Versatzstücke und Erinnerungen an ihr früheres Leben beherrschen dies aber. Jack wundert sich bspw. warum er eine Blinddarmnarbe hat, da er sich an die angebliche OP in seiner Kindheit nämlich nicht erinnert. Locke sitzt im Rollstuhl, weil er geistig immer noch nicht von ihm loslassen konnte, Sayid will Nadja, kann aber nicht mit ihr zusammen sein. Unabhängig davon, dass er auch hier ein Killer ist. Sawyer wünscht sich, er wäre auf der guten Seite des Gesetzes, was aber nichts daran ändert, dass ihn die Vergangenheit nicht loslässt. Das tut sie bei keinem, egal in welcher Form. Obwohl einige Rahmenbedingungen sich geändert haben, ändert es nichts daran, dass die Losties auf ihre Art und Weise immer noch ein wenig „lost“ und auf der Suche nach etwas sind. Kate ist immer noch auf der Flucht, Locke im Rollstuhl, Ben hat Probleme, sich für das Richtige zu entscheiden. Na ja, man erkennt die Zeichen. Gerade bei Jack, welcher sich so sehr wünscht, ein besserer Vater zu sein, als sein alter Herr, dass er gleich mal einen Sohn (der vermutlich deshalb aussieht, wie ein Klon von ihm) erschafft, mit welchem er daran arbeiten kann. Es gibt so viel kleine Zeichen und Momente, die man deuten kann in dieser Ebene. Allein die ganzen zufälligen Begegnungen da drin und die permanenten Selbstzitate… Erinnerungen, besondere Ereignisse, welche für die Figuren von Bedeutung sind und waren. Das muss man nicht mögen, aber als die Definition dieser Zwischenwelt muss man halt akzeptieren, wenn man das Ende begreifen möchte.

No More Daddy Issues
Ich selber bin kein großer Fan von übernatürlichem Kram und anfangs kam ich, obwohl ich die Serie bisher stets akzeptiert und mich von ihr hab leiten lassen, irgendwie nicht mit diesem Finish klar. Der Schock ist dabei aber weniger durch das inhaltliche Ende als solches bedingt, als vielmehr durch den Tenor, den es verbreitet. Das Herunterbrechen der Geschichte auf die reinen, von uns liebgewonnenen Charaktere ist der eigentliche Clou der Sache. All der Rest wird zur Nebensache. Fragen zu Plotholes? Antworten zu Mysterien? Pfff, Pustekuchen! Alles was zählt sind die Menschen, die Figuren, welche wir in den letzten sechs Jahren kennen- und lieben gelernt haben. Alles was sie erlebt haben, haben sie erlebt und alles, was sie taten, taten sie aus einem bestimmten Grund, manchmal aus freien Stücken, manchmal auch weil das Schicksal es forderte. Wenn wir jetzt noch „Faith“ gegen „Science“, sowie Schwarz gegen Weiß auftreten lassen, haben wir die Grundkonflikte der Serie ja schon zusammen. Desmond fasst das alles ja ganz trefflich zusammen, bevor er zur Quelle hinabsteigt. Er hat keine Angst mehr vor dem Leben, weil er die andere Seite gesehen hat. Und mir eine bessere Welt, in der all die Konflikte auf der Insel nicht mehr von Bedeutung sind, da man mit denen zusammen sein kann, die einem am Meisten bedeuten. Höchstwahrscheinlich hat Desmond aber keine genaue Ahnung, was er da gesehen hat, aber er wollte lieber dort sein, als auf der verfluchten Insel. Jack musste erst sein Ziel, den Tod Smokeys und die Rettung der Insel, erreichen, bevor er abtreten konnte und in jener Welt landet, wo die Insel und all das keine Bedeutung hat, sondern die Lösung und Quintessenz in etwas ganz einfachem liegt: im persönlichen Glück. Für viele ist es die Liebe zu einem Partner, für manche ist es einfach die Möglichkeit noch einmal mit den Leuten zusammen zu kommen, die einem viel bedeutet haben. Doch man irrt erst ein wenig blind in dieser Welt herum, bis man sich erinnert, warum man eigentlich hier gelandet ist. Desmond fungiert hier als Vermittler, da er halt gesehen hat, was er gesehen hat. Andere, ausgewählte Personen, wie bspw. Eloise Hawking wissen ebenfalls davon Bescheid. Aber sie bleibt, zusammen mit anderen, die nicht bereit sind, von ihren Erinnerungen loszulassen, noch da. Solange, wie sie halt muss. Auch Ben bleibt noch etwas zurück, vielleicht weil er noch ein paar Dinge mit Alex klären muss oder weil er dann dafür verantwortlich ist, Leute, wie bspw. Miles, Rousseau, Ethan oder andere Personen aus seinem Leben zu beobachten und diese dann zur Weiterreise zu bringen, wenn es für sie an der Zeit ist. Zeit, loszulassen und weiterzugehen, vielleicht zur endgültigen Ruhe.

Gang ins Ungewisse
Jack braucht am Längsten dafür, schafft es aber am Ende auch den eigenen Tod und all das Geschehene, für das er sich schuldig führt, als gegeben und unveränderbar zu akzeptieren. Es gibt einige Religionen und Glaubensrichtungen, welche an diese kurze Zwischenwelt glauben, sagt Matthew Fox. Manchmal kann sie nur ein paar Sekunden dauern, manchmal viel, viel länger. Vielleicht erlebt Jack alles was er in den Sideways der sechsten Staffel durchlebt hat am Ende in den paar Sekunden im Bambuswald, bevor sich eine Augen schließen. Das sei mal zur Interpretation frei gegeben, aber der Schnitt und sein Lächeln könnten auch so gedeutet werden, dass die Handlung in der Kirche parallel zur Inselhandlung abläuft. Christian Shephard geht durch die Tür und alle anderen sind eingeladen, dem Hirten ins Licht zu folgen. Sie haben ihr Ziel erreicht, sich wiedergefunden, für vergangene Sachen entschuldigt und wirklich losgelassen. Jack kann sich bei Juliet für den Tod entschuldigen, genauso wie Locke bei Boone und überhaupt. Auch Locke vergibt Ben am Ende und die Fragen sind geklärt. Alle haben sich wiedergefunden und ihr Schicksal, welches wir sechs Jahre lang mit verfolgen durften, akzeptiert. Alles ist erreicht, man kann gehen. Diese finale Botschaft von LOST, die Akzeptanz des Geschehenen kann nun, wer möchte auch gern, auf eine Metaebene übertragen werden. Ein Schelm, der den beiden Produzenten Lindelof und Cuse dabei keine Absicht unterstellt. Zumindest könnte man schon ein wenig darüber schmunzeln. Die Insel und all das? Nicht so wichtig. Durchaus auch als fadenscheinige Notlösung gültig… für eine Serie, die stets auf Mysterien beruhte. Dieser Teil mag etwas unbefriedigt zurückgelassen werden, aber es sind halt nicht nur die Fragen, die wichtig waren und die LOST zu dem gemacht haben, was es ist. Es sind auch mehrheitlich die Figuren, diese besondere Zusammenstellungen an Charakteren und die Reise die sie zusammen gegangen sind. Das ist das entscheidende. Diese Reise war spannend und voller Geheimnisse und Geschichten, die unabhängig von der Tatsache, dass es eine mysteriöse Insel mit allerhand seltsamen Kram ist, eigentlich nur normale Lebenserfahrungen widerspiegelten. Erfahrungen, welche wir alle mal machen werden. Liebe, Tod, Verlust, Betrug, Schuld, Freue, Leid… usw. Außer das wir keine Zeitreisen und Rauchmonster mit dabei haben. Bei allem Nerdismus und Herumrätseln, hat LOST am Ende einfach eine zutiefst menschliche Botschaft. Und das war der entscheidende und überraschende Twist am Ende, mit dem wir uns jetzt auseinandersetzen müssen. Und erst wenn wir das schaffen, können wir Fans halt auch von der Serie loslassen und weiterziehen.